Donnerstag, 23. Januar 2014

K wie Kommunikation oder Katzenbaby

„Ja.“ „Ich weiß es nicht.“ „In Ordnung.“ „Nein.“ „Vielleicht.“ „Ich verstehe kein Englisch.“
Um all das auszudrücken, braucht der Inder nur eine Geste: Ein Kopfwackeln, das dem verneinenden Kopfschütteln zum Verwechseln ähnlich sieht.
Was mir anfangs merkwürdig vorkam und immer wieder für Verwirrung gesorgt hat - Kopfschütteln mit gleichzeitigem Bejahen, JA WAS DENN NUN? - , habe ich mittlerweile weitestgehend adaptiert. Zwar sieht die Bewegung bei mir noch etwas albern und steif aus, aber ich übe fleißig vor dem Spiegel. Das Kopfwackeln ist nämlich eine verdammt praktische Ergänzung zu meinem herkömmlichen Wortschatz.
Wenn ich zum Beispiel mal wieder kein Wort von dem verstehe, was mir mein Gegenüber zu erklären versucht oder aus Höflichkeit weder Ja noch Nein sagen möchte, dann schüttle ich einfach in bester Wackeldackelmanier den Kopf und überlasse es dem anderen, meine Antwort in die eine oder andere Richtung auszulegen.

Passt zwar nicht zum Thema, ist aber wahnsinnig süß, heißt Kali und wohnt gerade bei uns.

Fallstudien





 Wir schreiben eine Reizwortgeschichte!
Thema „Ein Mädchen des Chaithanya Happy Home und sein Hintergrund“
Verwende folgende Begriffe: Armut, abhängig, Gewalt, zwingen, ausweglos.
Der Schauplatz sei die Straße, der Antagonist ein Mann.

Oben genannte Wörter sind die traurigen Konstanten in den Geschichten nahezu aller Mädchen. Es sind meist die gleichen Schicksalsschläge und Lebensbedingungen, die ihre Mütter in die Prostitution trieben. Die Geschichte von der achtjährigen Suma und ihrer Mutter Sita könnte zum Beispiel so klingen:

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Mitten in Indien. Ein kleines, beschauliches Dorf. Eine junge, hübsche Frau steht vor einer Hütte und wäscht ihren Sari. Sie lächelt und guckt verträumt. Sita denkt an den Mann, den sie liebt.
Morgen soll ihre Hochzeit sein, ein großes Fest für die bescheidenen Verhältnisse, in denen sie lebt. Der Mann, mit dem sie den Bund fürs Leben schließen wird, ist jedoch ein anderer, viele Jahre älter als sie selbst. Ihre Eltern haben ihn für sie ausgesucht, sie selbst hat ihn erst zweimal gesehen. Ein Schatten huscht über ihr Gesicht und die verliebten Augen werden ernst. Wie viel lieber würde sie den anderen heiraten! Doch ihren Gefühlen zu folgen, hieße, mit der Familie zu brechen.

So geht sie am nächsten Tag nach der Hochzeit mit einem Fremden nach Hause, dem sie von nun an eine liebende Gattin sein soll.
Wie sich das gehört dauert es auch nicht lange, bis Sita schwanger wird.

10 Monate später. Sita steht am Herd und kocht, gleich wird ihr Mann nach Hause kommen, hungrig und ungeduldig, bis dahin muss alles fertig sein. Im Hintergrund schreit das Baby. Es ist ein Junge, den Göttern sei Dank! Aber es ist mehr als der Alltag einer Hausfrau und Mutter, der auf Sita lastet und ihre Augenringe in die Tiefe zieht. Sie lebt in der ständigen Angst, dass ihr Geheimnis auffliegen könnte, denn die Beziehung zu dem jungen Mann, den sie liebt, hat nie aufgehört. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die Affäre ans Licht kommt!

Eines Tages kann Sita ihre unglückliche Situation nicht mehr ertragen. Sie brennt mit ihrem Geliebten durch und lässt alles hinter sich: Den Mann, den sie nie liebte, die Eltern, die sie nie verstehen werden, das Dorf, in dem sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hat – und ihren Sohn.

Doch die große Stadt, in der sie nun lebt, wird schnell zur Hölle für Sita. Der Mann, von dem sie dachte, er würde sie glücklich machen, zwingt sie, sich zu prostituieren und verkauft sie schließlich an ein Bordell. Dort lebt Sita wie eine Gefangene, eine von vielen Sexsklavinnen.
Sie wird misshandelt und missbraucht – und kurz darauf schwanger. Rücksicht wird darauf nicht genommen, die Qualen gehen weiter. Mit der Hilfe einer der anderen Prostituierten gelingt Sita die Flucht – gerade rechtzeitig, um ein Krankenhaus zu finden. Es ist ein Wunder, dass das Kind gesund auf die Welt kommt – wenn auch viel zu früh. Suma ist eine Frühgeburt.

Aus Angst vor dem mächtigen Netzwerk der Zuhälter hält Sita sich mit ihrer neugeborenen Tochter lange Zeit versteckt. Dann trifft sie einen neuen Mann. Die Gewalt nimmt jedoch kein Ende, viele Schläge später verlässt sie ihn. So gerät sie immer wieder an neue Männer, mit denen sie eine Zeit lang zusammenlebt. Alle sind sie gewalttätig und leben von dem Geld, das Sita anschafft. Denn Sita arbeitet wieder als Prostituierte – eine andere Möglichkeit, ihr Überleben zu sichern, hat sie nicht.

Soweit also eine der typischen Lebensgeschichten, die wir den Unterlagen der Mädchen entnehmen können. Diese hier hat jedoch eine Besonderheit, nämlich so etwas wie ein Happy End:

Eines Tages trifft Sita beim Arbeiten auf der Straße eine ehemalige Prostituierte, die die Sexarbeit mit Hilfe von CMM hinter sich lassen konnte und nun selbst für die Organisation arbeitet. So kommt sie in Kontakt mit Chaithanya Mahila Mandali. Mit der Unterstützung der CMM-Leute kann sie das Leben als Prostituierte hinter sich lassen und ebenfalls als „Outreach-Worker“ für jene Frauen da sein, die noch in den Händen der Sexindustrie sind.
Weil sie jedoch noch immer in einem Milieu lebt, das von Gewalt, Armut und Kriminalität geprägt ist, gibt sie ihre Tochter Suma in die Obhut von CMM. Mit der Organisation im Rücken kann sie außerdem endlich ihren Sohn, den sie im Dorf zurücklassen musste, zu sich nach Hyderabad holen. Dort ist er nun sicher untergebracht in einem Waisenhaus für Jungen.

Suma lebt nun seit zwei Jahren im Chaithanya Happy Home und ist eines der wenigen Mädchen, das seine Mutter noch hin und wieder zu Gesicht bekommt. Trotzdem oder gerade deshalb weint sie abends oft. Mit ihren acht Jahren wiegt für sie die Trennung von ihrer Mutter noch schwerer als eine kindgerechte Umgebung, eine gute Schulbildung und eine sichere Zukunft.






Sonntag, 12. Januar 2014

Die lieben Kleinen


























„You sit. Classes now. All big girls in other room.“ 
Wie habe ich noch gleich vor zwei Jahren das Englisch Abi bestanden?

Ich erschrecke manchmal darüber, wie ich mein Englisch in so kurzer Zeit auf Drei-Wort-Sätze reduziert habe. Es scheint mir manchmal so, als würde eher ich das Englisch der Kinder übernehmen als dass sie irgendetwas von mir lernen.
Außerdem haben wir recht schnell gemerkt, dass wir mit aufwendiger konstruierten Sätzen nicht sehr weit kommen. Die jüngsten Kinder hier sind drei Jahre alt, die älteren auch erst 13. Dazu kommt, dass viele von ihnen lange Zeit auf der Straße und in großer Armut gelebt haben und erst spät, nämlich als sie ins Waisenhaus kamen, eingeschult wurden.

Die alltägliche Kommunikation klappt so ganz ordentlich, schwierig wird es allerdings, wenn wir versuchen, so etwas wie Unterricht mit den Kindern zu machen und zum Beispiel den Mädchen, die noch nicht zur Schule gehen, aber eigentlich alt genug dazu wären, ein bisschen Schreiben, Lesen und Rechnen beizubringen.
Ohne eine gemeinsame Sprache als Basis irgendetwas zu vermitteln bereitet uns – noch dazu als Laienlehrer – allerdings wirklich Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass der indischen Unterricht von unserem Standpunkt aus mehr als zweifelhaft ist.
Die Lernmethoden lauten Auswendiglernen und Nachsprechen. Das sitzt bei den Kindern schon so fest, dass sie oft auf stur schalten, wenn ich versuche sie dazu zu bewegen, das, was sie lesen, auch auf den Inhalt hin zu untersuchen. Diese Methodik führt leider auch dazu, dass ein paar der Schulkinder noch überhaupt nicht lesen können – sie lassen sich Texte so lange vorsagen, bis sie die Wörter auswendig wissen.





























Es ist uns auch schon passiert, dass wir einem Mädchen bei seinen Hausaufgaben geholfen haben und uns am nächsten Tag dann das Heft mit der verschlimmbesserten Korrektur der Lehrerin gezeigt wurde: Unsere Version war durchgestrichen (Soweit sitzt unser Englisch noch, dass wir Zweitklässlerhausaufgaben bearbeiten können...) und mit Rotstift Sätze darüber geschrieben, die schlicht und ergreifend keinen Sinn ergaben.

Manchmal geht das Englisch Lernen aber auch ganz von allein, so können selbst die kleinsten Mädchen, die vor unserer Ankunft kein Wort Englisch sprachen, nun schon zwei „Sätze“ sagen: „She beating!“ und
„I am!“.

Ersteres wird ständig gebraucht, um Aufmerksamkeit zu bekommen und unliebsame Gegner im Kampf um Kleider, Stifte, Essen und Zuwendung bei uns in Ungnade fallen zu lassen.

Zweiteres ist DIE Standardfloskel und bedeutet eigentlich „I want to have this“ oder „I want to be the first one“.
Wir haben mittlerweile das blose Aussprechen von „I am“ zum Tabu erklärt. Natürlich ohne Erfolg. Es ist unser verzweifelter Versuch, nicht von allen Seiten ständig „Sister, I am!“ entgegengebrüllt zu bekommen. Jedes Kind will immer das erste und am besten auch das einzige sein und natürlich von allem das meiste haben. Man braucht keine tiefenpsychologischen Kenntnisse um zu erraten, dass das eine Folge der langen Zeit ist, in welcher die Kinder vernachlässigt und mit Mangel an allem gelebt haben. 

 



























Es ist schwer auszuhalten, wenn die Kinder, weil sie kein 'Nein' akzeptieren wollen, in vielen Situationen in alte Gewohnheiten zurückfallen. Und das heißt dann: Von unten angucken, „Please, sister!“ jammern und uns mit der aufgehaltenen Hand vor dem Gesicht herumwedeln. Das ist kein Betteln um ein Überraschungsei an der Supermarktkasse, das ist Betteln an der Straßenkreuzung um 5 Rupies oder ein bisschen Reis.

In solchen Momenten wird uns wieder klar, wo wir uns befinden und vor allem: Was die Kinder durchgemacht haben, bevor sie zu CMM kamen.

Eine Dreijährige hat am ganzen Körper Narben – Misshandlungen ihrer Mutter.
Ein anderes Mädchen hat Verbrennungen zwischen den Beinen – die Tante griff zur Strafe zum Bügeleisen.
Eine Fünfjährige hat Schnittwunden an den Armen und erzählt uns lachend, die habe sie sich mit einem Messer selbst zugefügt.
Ein Mädchen steht manchmal nachts auf, um andere Kinder zu würgen.

 


























  Die Gewalt war ein Dauergast im Leben der Mädchen. Wir bemühen uns sehr darum, auch nur die kleinste Grobheit unter den Mädchen zu unterbinden, denn auch wenn es Woche für Woche besser wird, werden kleine Streitereien immernoch allzu oft mit Händen und Füßen ausgetragen.
Gerne drohen auch die Größeren den Kleineren mit erhobener Faust – eine Geste, die sie von den Erwachsenen übernommen haben.

Daran liegt es vielleicht zum Teil auch, dass wir häufig Probleme haben, uns durchzusetzen. Selbst der allerstrengste Tonfall scheint Kindern harmlos, die als letzte Konsequenz Prügel erwarten.
Das Waisenhaus selbst ist dabei eigentlich eine gewaltfreie Zone. Dennoch haben wir anfangs beobachtet, wie Kinder von Aufsichtspersonen geschlagen wurden. Nach einem Gepräch mit unserem Projektleiter hat dieser das noch einmal ausdrücklich mit den Mitarbeitern geklärt und wir haben seither keine Handgreiflichkeiten mehr von Seiten der Erwachsenen gesehen.
Manchmal regt sich in uns aber leider der Verdacht, dass es nur unsere Gegenwart ist, die die Kinder vor solchen Maßregelungen bewahrt und es, sobald wir nicht da sind, weiterhin Klapse und Schläge hagelt – die Kinder scheuen sich jedoch davor, mit uns darüber zu sprechen. 

 
Wenn Gewalt Normalität ist, leuchtet es auch ein, weshalb die Kinder sich ständig gegenseitig wegen Nichtigkeiten schlagen. Wir haben mittlerweile einen Massagekreis eingeführt, um den Mädchen ein bisschen zu zeigen, dass es nicht nur groben Körperkontakt gibt.

Der fehlt vor allem den Jüngsten ohnehin sehr, ich habe manchmal das Gefühl, wir müssten das Fehlen von 25 Müttern kompensieren, was Kuscheln, an der Hand führen, auf den Arm nehmen, im Schoß sitzen und am Rockzipfel Ziehen angeht. Viele Kinder sind dabei jedoch nicht sehr behutsam und es ist ihnen auch ganz gleich, ob ich gerade versuche, etwas zu tun oder eigentlich mit einem anderen Kind beschäftigt bin.

Auf Dauer ist eine so aggressive Zärtlichkeit wirklich anstrengend – und manchmal auch schmerzhaft. Wie wir Kindern automatisch über den Kopf streicheln, wird ihnen hier in die Wange gekniffen. Das Gleiche machen auch die Kinder bei uns, um uns ihre Zuneigung zu zeigen und auch wenn es nur lieb gemeint ist, tut es manchmal doppelt weh. Einmal, weil sich kräftige Kinderfinger in meine Haut bohren. Und dann, weil die Liebesbedürftigkeit und das Heischen nach Aufmerksamkeit eine tragische Geschichte erzählen: Von jungen Jahren voller Armut, Gewalt und Misshandlungen, ohne Geborgenheit, ohne Mutter und ohne Kindheit.


Die Fotos sind übrigens auf dem Parkplatz des angrenzenden Bahnhof entstanden, der hier als Spielplatz dient und die einzige Grünfläche in der Nähe bietet - eine Idylle inmitten einfahrender Züge, Rikschas und der Bahnhofsjugend.
























Weihnachten in Goa, Silvester in Gokarna



























 Ich hatte mir im Vorhinein so meine Gedanken gemacht, wie sich das wohl anfühlen würde, Weihnachten fernab von Heimat, Familie und Freunden zu verbringen. Die Entscheidung, die Feiertage am Strand von Palolem zu verbringen war deshalb wohl das beste, was wir tun konnten.
Weißer Sand statt Schnee, Lassi statt Glühwein, Bikini statt Wintermantel - Santa Cows statt Santa Claus (haha). Kurzum, von Weihnachten habe ich, selbst in der großen Gruppe Deutscher, in der wir feierten, wenig gespürt. Ich hatte einen wunderschönen Tag, aber eben kein Weihnachten. Was aber auch heißt: Keine Melancholie und kein Heimweh.
Jetzt freue ich mich jedoch umso mehr auf nächstes Jahr. Ich werde wahscheinlich den ganzen Advent über in Festtagsstimmung sein, immer ein Weihnachtslied oder einen Lebkuchen zwischen den Lippen. Durch meine diesjährige Weihnachtsabstinenz werde ich unsere Fülle an Traditionen und Bräuchen vielleicht wieder richtig schätzen können.

Für Silvester ging es dann weiter gen Süden, nach Gokarna an einen wunderschönen Strand mit dem klangvollen Namen Om-Beach – welcher Ort könnte passender und verheisungsvoller sein, um in ein neues Jahr zu starten. Der Massentourismus, den wir im wunderschönen Goa erlebt haben, und alles, was damit verbunden ist, fehlen dort weitestgehend, weshalb die Strände Gokarnas für mich selbst Palolem, der als der ruhigste Strand Goas gilt, um Längen schlagen. Langweilig wurde es trotzdem keine Sekunde lang, da es in Gokarna eine riesige Backpackergemeinde gibt. Viele bleiben hier wochenlang hängen, einfach, weil die Atmosphäre so nett und der Ort so schön ist. Von einem Strand zum nächsten klettert man eine halbe Stunde lang durch den Wald und über Felsen und die hinteren Strände sind völlig unbesiedelt, sieht man einmal von ein paar Austeigern ab, die sich am Paradise-Beach niedergelassen haben.
Die Zeit schien für mich hier wie stehengeblieben – eigentlich ein Wunder, dass wir Mitternacht an Silvester nicht einfach verpasst haben! 













Ich werde bald einmal einen ganzen Blogeintrag den vielen süßen Welpen widmen müssen, die ich hier ständig fotografiere.