„You sit. Classes now. All big girls
in other room.“
Wie habe ich noch gleich vor zwei Jahren das
Englisch Abi bestanden?
Ich erschrecke manchmal darüber, wie ich
mein Englisch in so kurzer Zeit auf Drei-Wort-Sätze reduziert habe.
Es scheint mir manchmal so, als würde eher ich das Englisch der
Kinder übernehmen als dass sie irgendetwas von mir lernen.
Außerdem haben wir recht schnell
gemerkt, dass wir mit aufwendiger konstruierten Sätzen nicht sehr
weit kommen. Die jüngsten Kinder hier sind drei Jahre alt, die
älteren auch erst 13. Dazu kommt, dass viele von ihnen lange Zeit
auf der Straße und in großer Armut gelebt haben und erst spät,
nämlich als sie ins Waisenhaus kamen, eingeschult wurden.
Die alltägliche Kommunikation klappt
so ganz ordentlich, schwierig wird es allerdings, wenn wir versuchen,
so etwas wie Unterricht mit den Kindern zu machen und zum Beispiel
den Mädchen, die noch nicht zur Schule gehen, aber eigentlich alt
genug dazu wären, ein bisschen Schreiben, Lesen und Rechnen
beizubringen.
Ohne eine gemeinsame Sprache als Basis
irgendetwas zu vermitteln bereitet uns – noch dazu als Laienlehrer
– allerdings wirklich Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass der
indischen Unterricht von unserem Standpunkt aus mehr als zweifelhaft
ist.
Die Lernmethoden lauten Auswendiglernen
und Nachsprechen. Das sitzt bei den Kindern schon so fest, dass sie
oft auf stur schalten, wenn ich versuche sie dazu zu bewegen, das,
was sie lesen, auch auf den Inhalt hin zu untersuchen. Diese Methodik
führt leider auch dazu, dass ein paar der Schulkinder noch überhaupt
nicht lesen können – sie lassen sich Texte so lange vorsagen, bis
sie die Wörter auswendig wissen.
Es ist uns auch schon passiert, dass
wir einem Mädchen bei seinen Hausaufgaben geholfen haben und uns am
nächsten Tag dann das Heft mit der verschlimmbesserten Korrektur
der Lehrerin gezeigt wurde: Unsere Version war durchgestrichen
(Soweit sitzt unser Englisch noch, dass wir Zweitklässlerhausaufgaben
bearbeiten können...) und mit Rotstift Sätze darüber geschrieben,
die schlicht und ergreifend keinen Sinn ergaben.
Manchmal geht das Englisch Lernen aber
auch ganz von allein, so können selbst die kleinsten Mädchen, die
vor unserer Ankunft kein Wort Englisch sprachen, nun schon zwei
„Sätze“ sagen: „She beating!“ und
„I am!“.
„I am!“.
Ersteres wird ständig gebraucht, um
Aufmerksamkeit zu bekommen und unliebsame Gegner im Kampf um Kleider,
Stifte, Essen und Zuwendung bei uns in Ungnade fallen zu lassen.
Zweiteres ist DIE Standardfloskel und
bedeutet eigentlich „I want to have this“ oder „I want to be
the first one“.
Wir haben mittlerweile das blose
Aussprechen von „I am“ zum Tabu erklärt. Natürlich ohne Erfolg.
Es ist unser verzweifelter Versuch, nicht von allen Seiten ständig
„Sister, I am!“ entgegengebrüllt zu bekommen. Jedes Kind will
immer das erste und am besten auch das einzige sein und natürlich
von allem das meiste haben. Man braucht keine tiefenpsychologischen
Kenntnisse um zu erraten, dass das eine Folge der langen Zeit ist, in
welcher die Kinder vernachlässigt und mit Mangel an allem gelebt
haben.
Es ist schwer auszuhalten, wenn die
Kinder, weil sie kein 'Nein' akzeptieren wollen, in vielen
Situationen in alte Gewohnheiten zurückfallen. Und das heißt dann:
Von unten angucken, „Please, sister!“ jammern und uns mit der
aufgehaltenen Hand vor dem Gesicht herumwedeln. Das ist kein Betteln
um ein Überraschungsei an der Supermarktkasse, das ist Betteln an
der Straßenkreuzung um 5 Rupies oder ein bisschen Reis.
In solchen Momenten wird uns wieder
klar, wo wir uns befinden und vor allem: Was die Kinder durchgemacht
haben, bevor sie zu CMM kamen.
Eine Dreijährige hat am ganzen Körper
Narben – Misshandlungen ihrer Mutter.
Ein anderes Mädchen hat Verbrennungen
zwischen den Beinen – die Tante griff zur Strafe zum Bügeleisen.
Eine Fünfjährige hat Schnittwunden an
den Armen und erzählt uns lachend, die habe sie sich mit einem
Messer selbst zugefügt.
Ein Mädchen steht manchmal nachts auf,
um andere Kinder zu würgen.
Die Gewalt war ein Dauergast im Leben
der Mädchen. Wir bemühen uns sehr darum, auch nur die kleinste
Grobheit unter den Mädchen zu unterbinden, denn auch wenn es Woche
für Woche besser wird, werden kleine Streitereien immernoch allzu
oft mit Händen und Füßen ausgetragen.
Gerne drohen auch die Größeren den
Kleineren mit erhobener Faust – eine Geste, die sie von den
Erwachsenen übernommen haben.
Daran liegt es vielleicht zum Teil
auch, dass wir häufig Probleme haben, uns durchzusetzen. Selbst der
allerstrengste Tonfall scheint Kindern harmlos, die als letzte
Konsequenz Prügel erwarten.
Das Waisenhaus selbst ist dabei
eigentlich eine gewaltfreie Zone. Dennoch haben wir anfangs
beobachtet, wie Kinder von Aufsichtspersonen geschlagen wurden. Nach
einem Gepräch mit unserem Projektleiter hat dieser das noch einmal
ausdrücklich mit den Mitarbeitern geklärt und wir haben seither
keine Handgreiflichkeiten mehr von Seiten der Erwachsenen gesehen.
Manchmal regt sich in uns aber leider
der Verdacht, dass es nur unsere Gegenwart ist, die die Kinder vor
solchen Maßregelungen bewahrt und es, sobald wir nicht da sind,
weiterhin Klapse und Schläge hagelt – die Kinder scheuen sich
jedoch davor, mit uns darüber zu sprechen.
Wenn Gewalt Normalität ist, leuchtet
es auch ein, weshalb die Kinder sich ständig gegenseitig wegen
Nichtigkeiten schlagen. Wir haben mittlerweile einen Massagekreis
eingeführt, um den Mädchen ein bisschen zu zeigen, dass es nicht
nur groben Körperkontakt gibt.
Der fehlt vor allem den Jüngsten
ohnehin sehr, ich habe manchmal das Gefühl, wir müssten das Fehlen
von 25 Müttern kompensieren, was Kuscheln, an der Hand führen, auf
den Arm nehmen, im Schoß sitzen und am Rockzipfel Ziehen angeht.
Viele Kinder sind dabei jedoch nicht sehr behutsam und es ist ihnen
auch ganz gleich, ob ich gerade versuche, etwas zu tun oder
eigentlich mit einem anderen Kind beschäftigt bin.
Auf Dauer ist eine so aggressive
Zärtlichkeit wirklich anstrengend – und manchmal auch schmerzhaft.
Wie wir Kindern automatisch über den Kopf streicheln, wird ihnen hier
in die Wange gekniffen. Das Gleiche machen auch die Kinder bei uns,
um uns ihre Zuneigung zu zeigen und auch wenn es nur lieb gemeint
ist, tut es manchmal doppelt weh. Einmal, weil sich kräftige
Kinderfinger in meine Haut bohren. Und dann, weil die
Liebesbedürftigkeit und das Heischen nach Aufmerksamkeit eine
tragische Geschichte erzählen: Von jungen Jahren voller Armut,
Gewalt und Misshandlungen, ohne Geborgenheit, ohne Mutter und ohne
Kindheit.
Youpiehhh, endlich mal wieder News von Lilly aus Indien. Danke!!!!
AntwortenLöschen...was für tolle Bilder und ich wünsche Euch schöne Stunden auf dem "Spielplatz".
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