Sonntag, 12. Januar 2014

Die lieben Kleinen


























„You sit. Classes now. All big girls in other room.“ 
Wie habe ich noch gleich vor zwei Jahren das Englisch Abi bestanden?

Ich erschrecke manchmal darüber, wie ich mein Englisch in so kurzer Zeit auf Drei-Wort-Sätze reduziert habe. Es scheint mir manchmal so, als würde eher ich das Englisch der Kinder übernehmen als dass sie irgendetwas von mir lernen.
Außerdem haben wir recht schnell gemerkt, dass wir mit aufwendiger konstruierten Sätzen nicht sehr weit kommen. Die jüngsten Kinder hier sind drei Jahre alt, die älteren auch erst 13. Dazu kommt, dass viele von ihnen lange Zeit auf der Straße und in großer Armut gelebt haben und erst spät, nämlich als sie ins Waisenhaus kamen, eingeschult wurden.

Die alltägliche Kommunikation klappt so ganz ordentlich, schwierig wird es allerdings, wenn wir versuchen, so etwas wie Unterricht mit den Kindern zu machen und zum Beispiel den Mädchen, die noch nicht zur Schule gehen, aber eigentlich alt genug dazu wären, ein bisschen Schreiben, Lesen und Rechnen beizubringen.
Ohne eine gemeinsame Sprache als Basis irgendetwas zu vermitteln bereitet uns – noch dazu als Laienlehrer – allerdings wirklich Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass der indischen Unterricht von unserem Standpunkt aus mehr als zweifelhaft ist.
Die Lernmethoden lauten Auswendiglernen und Nachsprechen. Das sitzt bei den Kindern schon so fest, dass sie oft auf stur schalten, wenn ich versuche sie dazu zu bewegen, das, was sie lesen, auch auf den Inhalt hin zu untersuchen. Diese Methodik führt leider auch dazu, dass ein paar der Schulkinder noch überhaupt nicht lesen können – sie lassen sich Texte so lange vorsagen, bis sie die Wörter auswendig wissen.





























Es ist uns auch schon passiert, dass wir einem Mädchen bei seinen Hausaufgaben geholfen haben und uns am nächsten Tag dann das Heft mit der verschlimmbesserten Korrektur der Lehrerin gezeigt wurde: Unsere Version war durchgestrichen (Soweit sitzt unser Englisch noch, dass wir Zweitklässlerhausaufgaben bearbeiten können...) und mit Rotstift Sätze darüber geschrieben, die schlicht und ergreifend keinen Sinn ergaben.

Manchmal geht das Englisch Lernen aber auch ganz von allein, so können selbst die kleinsten Mädchen, die vor unserer Ankunft kein Wort Englisch sprachen, nun schon zwei „Sätze“ sagen: „She beating!“ und
„I am!“.

Ersteres wird ständig gebraucht, um Aufmerksamkeit zu bekommen und unliebsame Gegner im Kampf um Kleider, Stifte, Essen und Zuwendung bei uns in Ungnade fallen zu lassen.

Zweiteres ist DIE Standardfloskel und bedeutet eigentlich „I want to have this“ oder „I want to be the first one“.
Wir haben mittlerweile das blose Aussprechen von „I am“ zum Tabu erklärt. Natürlich ohne Erfolg. Es ist unser verzweifelter Versuch, nicht von allen Seiten ständig „Sister, I am!“ entgegengebrüllt zu bekommen. Jedes Kind will immer das erste und am besten auch das einzige sein und natürlich von allem das meiste haben. Man braucht keine tiefenpsychologischen Kenntnisse um zu erraten, dass das eine Folge der langen Zeit ist, in welcher die Kinder vernachlässigt und mit Mangel an allem gelebt haben. 

 



























Es ist schwer auszuhalten, wenn die Kinder, weil sie kein 'Nein' akzeptieren wollen, in vielen Situationen in alte Gewohnheiten zurückfallen. Und das heißt dann: Von unten angucken, „Please, sister!“ jammern und uns mit der aufgehaltenen Hand vor dem Gesicht herumwedeln. Das ist kein Betteln um ein Überraschungsei an der Supermarktkasse, das ist Betteln an der Straßenkreuzung um 5 Rupies oder ein bisschen Reis.

In solchen Momenten wird uns wieder klar, wo wir uns befinden und vor allem: Was die Kinder durchgemacht haben, bevor sie zu CMM kamen.

Eine Dreijährige hat am ganzen Körper Narben – Misshandlungen ihrer Mutter.
Ein anderes Mädchen hat Verbrennungen zwischen den Beinen – die Tante griff zur Strafe zum Bügeleisen.
Eine Fünfjährige hat Schnittwunden an den Armen und erzählt uns lachend, die habe sie sich mit einem Messer selbst zugefügt.
Ein Mädchen steht manchmal nachts auf, um andere Kinder zu würgen.

 


























  Die Gewalt war ein Dauergast im Leben der Mädchen. Wir bemühen uns sehr darum, auch nur die kleinste Grobheit unter den Mädchen zu unterbinden, denn auch wenn es Woche für Woche besser wird, werden kleine Streitereien immernoch allzu oft mit Händen und Füßen ausgetragen.
Gerne drohen auch die Größeren den Kleineren mit erhobener Faust – eine Geste, die sie von den Erwachsenen übernommen haben.

Daran liegt es vielleicht zum Teil auch, dass wir häufig Probleme haben, uns durchzusetzen. Selbst der allerstrengste Tonfall scheint Kindern harmlos, die als letzte Konsequenz Prügel erwarten.
Das Waisenhaus selbst ist dabei eigentlich eine gewaltfreie Zone. Dennoch haben wir anfangs beobachtet, wie Kinder von Aufsichtspersonen geschlagen wurden. Nach einem Gepräch mit unserem Projektleiter hat dieser das noch einmal ausdrücklich mit den Mitarbeitern geklärt und wir haben seither keine Handgreiflichkeiten mehr von Seiten der Erwachsenen gesehen.
Manchmal regt sich in uns aber leider der Verdacht, dass es nur unsere Gegenwart ist, die die Kinder vor solchen Maßregelungen bewahrt und es, sobald wir nicht da sind, weiterhin Klapse und Schläge hagelt – die Kinder scheuen sich jedoch davor, mit uns darüber zu sprechen. 

 
Wenn Gewalt Normalität ist, leuchtet es auch ein, weshalb die Kinder sich ständig gegenseitig wegen Nichtigkeiten schlagen. Wir haben mittlerweile einen Massagekreis eingeführt, um den Mädchen ein bisschen zu zeigen, dass es nicht nur groben Körperkontakt gibt.

Der fehlt vor allem den Jüngsten ohnehin sehr, ich habe manchmal das Gefühl, wir müssten das Fehlen von 25 Müttern kompensieren, was Kuscheln, an der Hand führen, auf den Arm nehmen, im Schoß sitzen und am Rockzipfel Ziehen angeht. Viele Kinder sind dabei jedoch nicht sehr behutsam und es ist ihnen auch ganz gleich, ob ich gerade versuche, etwas zu tun oder eigentlich mit einem anderen Kind beschäftigt bin.

Auf Dauer ist eine so aggressive Zärtlichkeit wirklich anstrengend – und manchmal auch schmerzhaft. Wie wir Kindern automatisch über den Kopf streicheln, wird ihnen hier in die Wange gekniffen. Das Gleiche machen auch die Kinder bei uns, um uns ihre Zuneigung zu zeigen und auch wenn es nur lieb gemeint ist, tut es manchmal doppelt weh. Einmal, weil sich kräftige Kinderfinger in meine Haut bohren. Und dann, weil die Liebesbedürftigkeit und das Heischen nach Aufmerksamkeit eine tragische Geschichte erzählen: Von jungen Jahren voller Armut, Gewalt und Misshandlungen, ohne Geborgenheit, ohne Mutter und ohne Kindheit.


Die Fotos sind übrigens auf dem Parkplatz des angrenzenden Bahnhof entstanden, der hier als Spielplatz dient und die einzige Grünfläche in der Nähe bietet - eine Idylle inmitten einfahrender Züge, Rikschas und der Bahnhofsjugend.
























2 Kommentare:

  1. Youpiehhh, endlich mal wieder News von Lilly aus Indien. Danke!!!!

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  2. ...was für tolle Bilder und ich wünsche Euch schöne Stunden auf dem "Spielplatz".

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