Dienstag, 13. Mai 2014

Veg / Non-Veg


Wäre ich nicht bereits Vegetarierin gewesen, so wäre ich es spätestens in Indien geworden. Tatsächlich hört ein Großteil der Freiwilligen hier damit auf, Fleisch zu essen, zumindest für die Zeit in Indien. Zum einen liegt das daran, dass hier offen auf der Straße gezeigt wird, was die meisten lieber nicht sehen würden: Zerfledderte, zusammengepferchte Hühner, die man lebendig oder frischgeschlachtet einpacken kann, bunt eingefärbte Küken (erst zum Spielen für die Kinder, dann für den Kochtopf), die sich in den engen Käfigen gegenseitig zertrampeln und dann im nächsten Straßengraben entsorgt werden, halbe Ziegen, die bei 40°C in der Sonne hängen, und überall tummeln sich die Fliegen. Mir wird jedesmal schlecht von dem süßlich modrigen Fleischgeruch, wenn ich an einer der Schlachtereien vorbei gehe, und von dem Gedanken an die Hygienestandards sowieso. Verdauungsprobleme sind hier für sensible Mägen fast vorprogrammiert, mit Fleisch auf dem Speiseplan erhöht man das Risiko noch um ein Vielfaches.

Dabei ist Indien für Vegetarier ohnehin ein kulinarisches Paradies. Nach fleischlosen Alternativen im Menü muss man nicht lange suchen, im Gegenteil, Restaurants und Imbissstände, die Fleisch auf der Karte stehen haben, sind eher in der Unterzahl und meist sogar durch ein großes „Non-Veg“ am Eingangsschild gekennzeichnet. „Veg“ ist hier nämlich die Regel und nicht die Ausnahme. Der durchschnittliche Fleischkonsum beträgt in Indien nur einen Bruchteil von den Mengen an Fleisch, die in Deutschland jährlich vertilgt werden. Das lässt sich natürlich nicht nur durch den hohen Vegetarieranteil in der Gesellschaft, nämlich immerhin 30-40%, erklären, sondern hängt auch damit zusammen, dass sich viele ärmere Leute nur selten oder gar kein Fleisch leisten können. Vor allem viele strenggläubige Hindus verzichten aber vollständig auf Fleisch und manchmal auch auf Eier. Das geht mit dem Ideal des Gewaltverzichts einher und mit dem Glauben an die Reinkarnation. Wenn Fleisch gegessen wird, dann übrigens meistens Huhn oder Ziege. Die Kuh ist den meisten Indern heilig und darf nicht gegessen werden. Kühe, die keine Milch mehr geben, werden deshalb oft einfach freigelassen und streunen dann in den Straßen umher.
Gesundheitliche oder gar ökologische Gründe für den Fleischverzicht sind den meisten Leuten aber fremd; Vegetarier zu sein ist meist keine Entscheidung sondern eine Tradition. Während vor allem die ältere Generation also noch an der fleischlosen Ernährung festhält, essen viele jüngere Inder, sobald sie aus dem Haus sind, gerne und viel "Non-Veg", allen Gruselgeschichten von Rattenfleisch im Hühnchen-Curry zum Trotz.

Südindien

Hampi

 

  Der Lärm, der Dreck, das Chaos und die unmittelbare Konfrontation mit bitterer Armut, die in Indien vor allem in den Städten allgegenwärtig sind, kosten Kraft und stoßen mich selbst nach einem halben Jahr in Hyderabad immer noch und immer wieder vor den Kopf.
Bei der Ankunft in Mumbai ist das erste, das man sieht, der Slum, der das Flughafengelände umgiebt. Einladend für Urlauber ist das natürlich nicht.
Sich deshalb davon abschrecken zu lassen, nach Indien zu kommen, wäre jedoch schade. Denn auch wenn man die Augen vor den Schattenseiten nicht verschließen kann und darf, dürfte man in kaum einem Land so wunderschön, vielfältig und spannend reisen können. 
Hochmoderne Stadtviertel in Megastädten, Bilderbuchbasare, kleine Dörfer, traumhafte Strände, wunderschöne Berge mit idyllischen Teeplantagen, unberührte Wälder und Natur, Wüste, beeindruckende Felsenlandschaften, historische, kulturelle und architektonische Schätze en masse – in Indien gibt es nichts, das es nicht gibt.
Das kann ich bereits sagen, obwohl ich noch nicht nördlicher als bis Nagpur gekommen bin, die Stadt, die die geographische Mitte Indiens kennzeichnet.

Mit zwei anderen Freiwilligen habe ich meine Reise in Hampi in Karnataka begonnen, über Tamil Nadu ging es nach Kerala und zu guter Letzt bin ich auf den Andamanen gelandet. Ich könnte nicht sagen, wo es mir am besten gefallen hat.
Ein ebenso tolles Erlebnis wie das Erkunden der unterschiedlichsten Orte war für mich aber oft auch das Reisen selbst.

Die gut ausgebaute Infrastruktur macht es sehr einfach, von A nach B zu kommen. Zwar dauern die Zugfahrten oft dreimal so lang, wie man für die gleiche Strecke in Deutschland einplanen würde, dafür macht das Reisen aber auch ungleich mehr Spaß: Am liebsten über Nacht im Sleeperabteil, bei offenen Fenstern und Türen, mit einem Fahrtwind, der die Klimaanlagen überflüssig macht.
So lange es noch hell ist, kann man die Zeit wunderbar damit verbringen, zu lesen, die vorbeiziehende Landschaft zu bewundern oder das brennenden Interesse seiner Sitznachbarn an Erzählungen über Deutschland zu befriedigen.
In Bauchläden werden Snacks und allerhand Ramsch feilgeboten und die Teeverkäufer ersetzen morgens den Wecker. Jeder Verkäufer hat seinen eigenen Sing-Sang, und der Chor aus „Chaaaaaiiii! Chaaaaaiiii!“ - Rufen ist für mich die Melodie des Zugfahrens geworden.

Man hört es meiner Beschreibung vielleicht an: Ich liebe Zugfahren. Das geht durchaus nicht jedem so und natürlich kann die Enge, der Trubel und manche Aufdringlichkeit den Aufenthalt im meist überfüllten Schlafwagen schnell auch anstrengend machen. Dennoch würde ich eine Zugfahrt immer den etwas teureren und komfortableren Fernbussen vorziehen.

Hampi


Hampi

Vattakanal

Vattakanal

Bei Munnar

Alappuzha

Alappuzha

Alappuzha




























































































































































































  Wir sind nicht zur Hauptsaison gereist. Das hat uns zwar ein paar Regenstunden in Kerala und allgemein hohe Temperaturen beschert, dafür hat unsere Reise wahrhaftig das Attribut Low-Budget verdient. Leckeres Essen und akzeptable Unterkünfte direkt am Strand bekommt man für umgerechnet ein paar Euro. Das zieht viele Backpacker an, die mit wenig Geld reisen. So ist zum Beispiel eine der Uferseiten Hampis, einem Ort berühmt für seine Tempelruinen, völlig in den Händen junger Rucksackreisender. Es variiert jedoch sehr stark, ob man in einer Gegend mehr Backpacker oder Pauschaltouristen findet, indische oder internationale Urlauber. Alleine ist man in Indien sowieso nie.

Die Ausnahme waren hier die Andamanen, wo wir oft den ganzen Strand für uns alleine hatten.
Seit ich das erste Mal von den Inseln gehört hatte, war ich eingenommen von der Idee, meinem Aufenhalt in Rest-Indien einen Besuch auf diesen Inseln entgegenzusetzen, die nicht nur geographisch gesehen eigentlich kaum mehr zu Indien gezählt werden können, sondern auch durch ihre Ruhe und Unerschlossenheit hervorstechen. Nicht alle Teile der Inselgruppe sind uneingeschränkt für Besucher zugänglich, die Nikobaren etwa, auf denen die indigene Bevölkerung deshalb noch weitgehend ungestört leben kann, dürfen von Touristen überhaupt nicht betreten werden. Die anderen Inseln haben aber ohnehin genug an paradiesischer Schönheit zu bieten. Ein Plastiktütenverbot und vielleicht auch eine gewisse Ehrfurcht vor den weißen, von Palmenwäldern und Mangroven gerahmten Stränden, haben es bislang noch geschafft, die Verselbstständigung der Mülldeponien, die man sonst überall in Indien findet, zu verhindern. Der Geruch von brennenden Müllbergen und die Selbstverständlichkeit, mit der jeglicher Abfall in Ermangelung von Mülleimern und Umweltbewusstsein einfach fallen gelassen wird, nehmen Straßen, Strände und Natur sonst leider fast überall in Indien ein.

Nun bin ich schon seit einer Weile wieder zurück und die Umstellung von wunderschönen Landschaften zum mittelmäßig attraktiven aber überdurchschnittlich schmutzigen Stadtbild Hyderabads und von der Freiheit beim Reisen zum normalen Arbeitsalltag ist mir nicht ganz leicht gefallen. 

Ich wäre gerne noch ewig weitergereist - ich habe ja auch bei Weitem nicht alles gesehen.
Vor allem der komplette Norden fehlt mir noch zu einem umfassenderen Überblick von Indien. Denn wenn ich daran denke, wie schnell sich die Kultur, die Landschaften und Religionen mit der zurückgelegten Kilometerzahl selbst innerhalb der südlichen Staaten verändert, dann merke ich, wie wenig ich doch eigentlich immer noch von diesem riesigen Land kenne.
In der knappen Zeit und den noch knapperen Urlaubstagen, die mir noch bleiben, werde ich das auch sicher nicht mehr ändern können.

Dafür weiß ich aber, dass ich unbedingt in ein, zwei Jahren wieder nach Indien kommen will, um all die Orte zu sehen, die ich bisher nur aus schwärmerischen Erzählungen anderer Reisender kenne.

Andamanen

Andamanen

Andamanen
Andamanen

Montag, 31. März 2014

Schöne Reise!

Meine persönliche Blogstatistik zeigt, dass sich seit November hier das Wort-Bild Verhältnis umgekehrt hat und die Häufigkeit der Einträge drastisch nachlässt. Aber keine Sorge, ich bin am Leben! Tatsächlich habe ich mittlerweile einfach mehr zu tun als in den Anfangswochen und deshalb selten Zeit und zugegebenermaßen auch Lust, mein Blog zu füttern. Und morgen Abend werde ich mich auch schon in den Zug nach Hampi setzen, meine Südindienreise beginnen und wieder wochenlang nichts mehr von mir hören lassen. Wünscht mir also eine gute Reise und, ja, ich passe auf mich auf!

Samstag, 1. März 2014

Rescue Children from Forced Sex Work in India


 CMM nimmt an globalgiving.org teil, einer Art Fundraising Plattform. Spendenfreudige können sich dort aus vielen vorgestellten Projekten ihr liebstes aussuchen und Geld überweisen (15% behält Globalgiving allerdings für anfallende Kosten ein). Momentan gibt es zudem eine „Challenge“: Projekte, die innerhalb eines Monats (01.03.14 bis 31.03.14) mindestens 5000 $ von mindestens 40 verschiedenen Spendern bekommen, erhalten einen dauerhaften Platz auf der Homepage von Globalgiving. Zudem werden im Laufe dieses Monats immer wieder Boni und Zuschüsse vergeben.

Ich empfehle natürlich, das Projekt „Rescue Children from Forced Sex Work in India“ zu unterstützen. Nicht nur, weil ich extra hübsche Fotos hochgeladen habe, sondern auch, weil CMM dringend Geld braucht. Das neue Schuljahr beginnt bald und unsere Organisation, die finanziell immer sehr am kämpfen ist, hofft momentan vor allem deshalb auf Unterstützung, um für die Schulgebühren aufkommen zu können.


Auch außerhalb der Globalgiving Aktion ist es selbstverständlich möglich, an CMM zu spenden. Die Spendenabwicklung läuft, um Auslandsüberweisungsgebühren zu sparen, über den deutschen Partnerverein Deutsch-Indische Zusammenarbeit, der auch meine Entsendeorganisation ist. Wer spenden mag, tut das also am besten mit dem Verwendungszweck „Spende für CMM“ auf folgendes Konto der DIZ:

Ktn 4004108
BLZ 52060410
IBAN DE84520604100004004108
TAN GENODEF1EK1

Die DIZ kann für Spenden auch Zuwendungsbestätigungen ausstellen, was bei Globalgiving leider nicht der Fall ist.

Freihandelsabkommen

Ich schreibe aus Indien zu einem Thema, das mich seit einigen Wochen sehr beschäftig, gerade, weil es hier nicht relevant ist. Es geht um das Transatlantische Freihandelsabkommen, das sich mehr und mehr als bodenlose Frechheit entpuppt. Ich bin mir sicher, nicht die einzige zu sein, die das Thema in letzter Zeit umtreibt. Nun bin ich gerade aber in einem Land, das von den Verhandlungen nicht betroffen ist, ich weiß also nicht, wie all das in Deutschland und der EU momentan aufgenommen und diskutiert wird, von Zeitungsberichten einmal abgesehen. Deshalb habe ich das dringende Bedürfnis, meiner Wut Luft zu machen. Vielleicht seid ihr ja bereits gelangweilt von der ewigen Diskussion – wenn dem so ist, wunderbar, es ist nur zu wünschen, dass die Probleme jedem bewusst sind und sich hoffentlich auch Protest regt.

Denn die Verhandlungen verhöhnen jegliche Demokratie. Sie werden in einem winzigen Kreis geführt, der Entwurf für das Freihandelsabkommen der EU-Kommission wurde bislang geheim gehalten (hier jetzt veröffentlicht: http://www.zeit.de/wirtschaft/2014-02/freihandelsabkommen-eu-sonderrechte-konzerne). Hollande drängte in einem Gespräch mit Obama darauf, die Verhandlungen möglichst schnell zu beenden, bevor es noch zu Angst, Kritik und Protest von Seiten der Bevölkerung kommen könnte. Die Angst ist jedoch gerechtfertigt, Kritik dringend angebracht und Protest geboten. 


Das Abkommen soll eine Investitionsschutzklausel beinhalten, die es Konzernen ermöglicht, mit Hilfe von Schiedsgerichten Staaten zu verklagen, wenn diese sie nicht fair und gerecht behandeln. Das heißt jedoch im Klartext: Konzerne können Staaten auf Schadenersatzzahlungen verklagen, wenn sie Gesetze und Regulierungen verabschieden, die die Konzerne und ihre Gewinne einschränken. Genau diese Regulierungen dienen aber häufig dem Verbraucher- und Umweltschutz.
Da tagen dann also ein paar Schiedsrichter, selbst gewählt von den Streitparteien, und knobeln unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein Urteil aus. Die Verlierer stehen so eigentlich im Voraus fest.

Voraussetzung für einen freien Handel sind gleiche Standards auf beiden Seiten. Nun haben wir in Deutschland und in der EU das Glück, relativ hohe Standards zu genießen, was Verbraucher- und Umweltschutz angeht. Das wird mir besonders hier in Indien jeden Tag aufs Neue klar. Es ist jedoch offensichtlich, dass Standards leichter gesenkt als erhöht werden. Konsequenz für uns kann dann Genfood und anderweitig behandeltes Essen („Chlorhühnchen“) in den Läden sein oder die Zulassung von Fracking und schädlichen Chemikalien.

All das lässt sich nicht ausprobieren und dann wieder rückgängig machen – weder das Abkommen, zu dessen Änderung alle Vertragspartner zustimmen müssten, noch die daraus folgenden Konsequenzen. Wenn wir einmal Genmanipuliertes auf den Feldern haben, wird der herkömmliche Anbau bald nicht mehr möglich sein. Die Folgen, die sich aber daraus für unsere Gesundheit und unsere Umwelt ergeben werden, sind nicht absehbar.

Der tatsächliche wirtschaftliche Nutzen des TTIP ist ein Witz: 0,5% Wirtschaftswachstum in 10 Jahren? Selbst diejenigen, die mit dem Verfassen der Studie beauftragt wurden, geben zu, dass der Nutzen verschwindend gering ist. Dennoch werden uns die Zahlen als großes Geschenk verkauft. Hohe Zölle gibt es ohnehin nicht, lediglich diese zu beseitigen würde also kaum einem Unternehmen irgendeinen Mehrwert bringen. Worauf die Konzerne spekulieren, ist die Abschaffung nichttarifärer Handelshemmnisse, also eben jener Regulierungen, die manchmal die nationale Wirtschaft stärken sollen, oftmals aber auch dem Schutz der Verbraucher dienen.

Mich empört, wie wir, die Verbraucher, so völlig außer Acht gelassen werden können bei Verhandlungen um ein Abkommen, das unseren Lebensstandard signifikant verändern kann. „Die Verhandlungen dürfen ferner nicht zu früh von wirtschaftsfremden Themen, wie z. B. von sozialen
und ökologischen Belangen sowie vom Verbraucherschutz, überlagert werden“, fordert die Industrie- und Handelskammer Bayern. Es ist kein Geheimnis, dass Politik mehr für die Lobbys als für die „normalen“ Menschen gemacht wird. Dass das aber auch laut ausgesprochen werden kann, finde ich unfassbar.

Freitag, 28. Februar 2014

Kopfschütteln

Ein kurzer Nachtrag zu meinem Bericht über das kopfwackelnde Kommunizieren der Inder
- danke July für den Link!


Nachts in Hyderabad


Nachts am Charminar
 Der Charminar ist das Wahrzeichen von Hyderabad. Er wurde 1591 von einem Sultan errichtet, als Erinnerung an das Ende einer Pest und als Dank dafür, dass seine Gebete erhört worden waren.
Rund um die mächtigen Bögen und Minarette gibt es einen riesigen Bazar, der vor allem für die Unmengen an billigen Schmuck bekannt ist, die dort feilgeboten werden. Die meisten Armreifen und Ketten sind über und über mit Strass verziert und glänzen entweder golden oder in grellbunten Farben. Schlicht ist nicht. Zusammen mit den Menschenmengen, den schreienden Händlern und den ebenso nachdrücklich um Aufmerksamkeit buhlenden Bettlern ist das schon tagsüber eine Reizüberflutung für die Sinne. Diese Fotos entstanden am späten Abend aus dem Auto heraus, was auch die schlechte Bildqualität erklärt. Dennoch finde ich, dass die Aufnahmen die nächtliche Atmosphäre eindrücklich wiedergeben, die besonders reizvoll ist, da der Charminar im Dunkeln beleuchtet wird und die Hektik des Basars in ein wunderschönes Licht getaucht ist.


































Nachts in Sitafalmandi
Das Viertel, in dem wir wohnen, heißt Sitafalmandi - übersetzt heißt das "Custard-Apple Markt". Direkt als verschlafen kann man es nicht bezeichnen, dafür gibt es zu viele Menschen, zu viele Obststände, zu viel Verkehr. Das ist aber auch schon so ziemlich alles, was hier geboten ist, und so kehrt hier abends schon recht früh Ruhe ein. Nur der Müll am Straßenrand brennt weiter friedlich vor sich hin.

Donnerstag, 20. Februar 2014

Hindustan

Vor ein paar Tagen sind wir, wie so oft, mit unserer Horde Kinder in den Park gegangen. Auf dem Weg sprach mich ein älterer Herr an und fragte, was das für Kinder seien und was wir mit ihnen zu tun hätten. Ich habe ihm erklärt, dass es Waisen sind und wir eben als Freiwillige auf sie aufpassen. Der Mann meinte dann mit einem fast aggressiven Unterton: „You can take care of them, but don't convert them into Christians!“ Ich habe darauf verzichtet, ihm auf die Nase zu binden, dass die Mädchen alle schon überzeugte Christen sind und wir vielmehr manchmal nicht wissen, wie wir mit ihrem, in unseren Augen extremen und naiven, Glauben umgehen sollen.
Wenn ein Mädchen seine besten Freunde aufzählt, kann man sicher sein, dass Jesus ganz vorne mit dabei ist. Kinderlieder, die ich in religiös neutralen Versionen kenne, klingen im Chaithanya-Happy-Home-Style oft anders: Aus „I like the flowers, ...“ wird hier „I like the Jesus...“; an „Head, shoulders, knees and toes“ wird „...all belongs to Jesus“ angehängt. Mein persönliches Lieblingslied hat den einprägsamen Text: „When I look to my right, I see Jesus calling, when I look to my left, I see Satan falling – Jesus super super power, Satan zero zero power!“ Für meine Ohren klingt das recht schräg. Vor dem Essen wird gebetet, sonntags gehen die Kinder alleine in die Kirche, das ist für sie schon völlig selbstverständlich. Auf der einen Seite gibt ihnen das einen Halt, den sie natürlich dankbar annehmen. Auf der anderen Seite finde ich es kritisch, dass die Kinder, deren Mütter allesamt Hindus waren, hier so kategorische Christen sind, dass sie uns schon einmal mit vielsagendem Blick zuraunen „He's a muslim!“.
Dabei ist CMM keine christliche Organisation. Jaya Singh, der Projektmanager, ist zwar Christ, Jayamma, die Präsidentin und fast alle Angestellten sind jedoch Hindus – wie immerhin 80% aller Inder. Die nächstgrößte Gruppe bilden die Muslime, die gerade in Hyderabad sehr zahlreich vertreten sind. Ganz egal, welcher Religion man aber angehört, sie spielt eine große Rolle im Alltag. Aber auch wenn wir dem Hinduismus also wohin wir auch gehen ständig über den Weg laufen und ich mein Bestes gebe, in dem Geflecht an Göttern, Glaubensrichtungen und Traditionen durchzublicken, so bleibt mir vieles doch ein Rätsel.

Sarasvati, Göttin der Weisheit und Gelehrsamkeit, als Statue im Schulhof einer staatlichen Schule.




Ein buntes Schiffchen, wohl eine Opfergabe, treibt auf einem, dem Gott Krishna geweihten, Fluss.



Die Blumenketten werden an jeder Straßenecke geknüpft und verkauft, sie dienen als eine Art Opfergabe und schmücken wie hier Tempel, Türen, Statuen, Bilder, Altäre, Autos.


Solche Rangolis findet man fast vor jedem Haus. Sie müssen täglich erneuert werden, da sie traditionell mit Reismehl aufgetragen werden. Das war ursprünglich ein Zeichen des Respekts vor selbst den kleinsten Lebewesen, denen man damit eine Mahlzeit beschaffte. Auch mit Kreide gemalt sehen sie aber sehr hübsch aus. Meist sind sie weiß, zu Pongal aber, dem südindischen Erntedankfest, haben sich viele Leute besonders viel Mühe gegeben.

Der geräuschvolle Einzug in ein Gebäude nahe unserer Straße. Welchem Anlaß das Spektakel aus Tanz, Gesang, Krach, Feuer und mysteriösen Tonbehältern galt, konnte ich leider nicht herausfinden. Solche oder ähnliche Versammlungen konnten wir schon öfter beobachten, teilweise gleichen sie Karnevalsumzügen mit großen Wägen, von denen aus süßer Reis verteilt wird. Außerdem übrigens das einzige Mal, dass ich Männer Gefäße auf dem Kopf transportieren gesehen habe. Überhaupt sind Frauen selten unmittelbar dabei, wenn es um solche Zeremonien geht.


Ein kleiner Hausaltar, wie man ihn hier in fast jedem hinduistischen Haushalt und auch in vielen Läden findet. Dieser hier steht in einem Haus in einem kleinen Dorf, das wir besucht haben. Zur Begrüßung wurde uns nicht nur, wie es ein traditionelles Willkommensritual ist, mit farbigem Pulver ein Fleck auf die Stirn gemacht. Wir durften zudem auch eine Handvoll ehemaliger Opfergaben essen: Eine Mischung aus Zucker, Reismehl und den zerkleinerten Kokosnüssen.



Ein Haufen geopfterter Kokosnüsse. Ich war mir anfangs nicht sicher, ob es ernst gemeint war, als ich bei einem Tempelbesuch dazu aufgefordert wurde, mir das Wasser einer aufgeschlagenen Kokosnuss über den Kopf zu gießen.



Hier feiert ein Dorf die Hochzeit von zwei Göttern, ich meine es sind Vishnu und Lakshmi. Der ganze Ort gleicht einem einzigen Volksfest.






In einer stundenlangen Zeremonie werden die Figuren der Götter vermählt, mit all den Riten, die man auch auf einer „echten“ Hochzeit finden würde. Da wird mit Farbpulvern geworfen, mit Reis bestreut, Früchte dargebracht, Substanzen verbrannt, Feuerchen geschwenkt – all das begleitet von leiernden Worten und schräger Musik. Der Hinduismus ist eine Religion der Rituale, die für eine Außenstehende wie mich schwer zu durchschauen sind.



Rätsel 1: Worin könnte die Sitzordnung im Zuschauerzelt bestehen?
Rätsel 2: Wer waren die einzigen Frauen auf dem Fest, denen mit Nachdruck Stühle unter den Hintern geschoben wurden? Ich frage mich oft, was mehr zählt, weiß zu sein oder eine Frau. Auf solchen Veranstaltungen ist es erstere, in der Schlange im Supermarkt zweitere Eigenschaft, der entsprechend wir behandelt werden.




Götterstatuen mit Opfergaben im Inneren eines Tempels. Ich wurde ausdrücklich dazu aufgefordert, zu fotografieren, sonst hätte ich das natürlich nie gewagt, grundsätzlich ist das nämlich eher ein Tabu. Und die breche ich ohnehin gerne – bei meinem ersten Tempelbesuch habe ich eine Art heilige Altarschaukel mit der linken, der unreinen Hand berührt. Die bösen Blicke, die ich mir dafür eingefangen habe, kann man sich leicht vorstellen.

Donnerstag, 23. Januar 2014

K wie Kommunikation oder Katzenbaby

„Ja.“ „Ich weiß es nicht.“ „In Ordnung.“ „Nein.“ „Vielleicht.“ „Ich verstehe kein Englisch.“
Um all das auszudrücken, braucht der Inder nur eine Geste: Ein Kopfwackeln, das dem verneinenden Kopfschütteln zum Verwechseln ähnlich sieht.
Was mir anfangs merkwürdig vorkam und immer wieder für Verwirrung gesorgt hat - Kopfschütteln mit gleichzeitigem Bejahen, JA WAS DENN NUN? - , habe ich mittlerweile weitestgehend adaptiert. Zwar sieht die Bewegung bei mir noch etwas albern und steif aus, aber ich übe fleißig vor dem Spiegel. Das Kopfwackeln ist nämlich eine verdammt praktische Ergänzung zu meinem herkömmlichen Wortschatz.
Wenn ich zum Beispiel mal wieder kein Wort von dem verstehe, was mir mein Gegenüber zu erklären versucht oder aus Höflichkeit weder Ja noch Nein sagen möchte, dann schüttle ich einfach in bester Wackeldackelmanier den Kopf und überlasse es dem anderen, meine Antwort in die eine oder andere Richtung auszulegen.

Passt zwar nicht zum Thema, ist aber wahnsinnig süß, heißt Kali und wohnt gerade bei uns.

Fallstudien





 Wir schreiben eine Reizwortgeschichte!
Thema „Ein Mädchen des Chaithanya Happy Home und sein Hintergrund“
Verwende folgende Begriffe: Armut, abhängig, Gewalt, zwingen, ausweglos.
Der Schauplatz sei die Straße, der Antagonist ein Mann.

Oben genannte Wörter sind die traurigen Konstanten in den Geschichten nahezu aller Mädchen. Es sind meist die gleichen Schicksalsschläge und Lebensbedingungen, die ihre Mütter in die Prostitution trieben. Die Geschichte von der achtjährigen Suma und ihrer Mutter Sita könnte zum Beispiel so klingen:

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Mitten in Indien. Ein kleines, beschauliches Dorf. Eine junge, hübsche Frau steht vor einer Hütte und wäscht ihren Sari. Sie lächelt und guckt verträumt. Sita denkt an den Mann, den sie liebt.
Morgen soll ihre Hochzeit sein, ein großes Fest für die bescheidenen Verhältnisse, in denen sie lebt. Der Mann, mit dem sie den Bund fürs Leben schließen wird, ist jedoch ein anderer, viele Jahre älter als sie selbst. Ihre Eltern haben ihn für sie ausgesucht, sie selbst hat ihn erst zweimal gesehen. Ein Schatten huscht über ihr Gesicht und die verliebten Augen werden ernst. Wie viel lieber würde sie den anderen heiraten! Doch ihren Gefühlen zu folgen, hieße, mit der Familie zu brechen.

So geht sie am nächsten Tag nach der Hochzeit mit einem Fremden nach Hause, dem sie von nun an eine liebende Gattin sein soll.
Wie sich das gehört dauert es auch nicht lange, bis Sita schwanger wird.

10 Monate später. Sita steht am Herd und kocht, gleich wird ihr Mann nach Hause kommen, hungrig und ungeduldig, bis dahin muss alles fertig sein. Im Hintergrund schreit das Baby. Es ist ein Junge, den Göttern sei Dank! Aber es ist mehr als der Alltag einer Hausfrau und Mutter, der auf Sita lastet und ihre Augenringe in die Tiefe zieht. Sie lebt in der ständigen Angst, dass ihr Geheimnis auffliegen könnte, denn die Beziehung zu dem jungen Mann, den sie liebt, hat nie aufgehört. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die Affäre ans Licht kommt!

Eines Tages kann Sita ihre unglückliche Situation nicht mehr ertragen. Sie brennt mit ihrem Geliebten durch und lässt alles hinter sich: Den Mann, den sie nie liebte, die Eltern, die sie nie verstehen werden, das Dorf, in dem sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hat – und ihren Sohn.

Doch die große Stadt, in der sie nun lebt, wird schnell zur Hölle für Sita. Der Mann, von dem sie dachte, er würde sie glücklich machen, zwingt sie, sich zu prostituieren und verkauft sie schließlich an ein Bordell. Dort lebt Sita wie eine Gefangene, eine von vielen Sexsklavinnen.
Sie wird misshandelt und missbraucht – und kurz darauf schwanger. Rücksicht wird darauf nicht genommen, die Qualen gehen weiter. Mit der Hilfe einer der anderen Prostituierten gelingt Sita die Flucht – gerade rechtzeitig, um ein Krankenhaus zu finden. Es ist ein Wunder, dass das Kind gesund auf die Welt kommt – wenn auch viel zu früh. Suma ist eine Frühgeburt.

Aus Angst vor dem mächtigen Netzwerk der Zuhälter hält Sita sich mit ihrer neugeborenen Tochter lange Zeit versteckt. Dann trifft sie einen neuen Mann. Die Gewalt nimmt jedoch kein Ende, viele Schläge später verlässt sie ihn. So gerät sie immer wieder an neue Männer, mit denen sie eine Zeit lang zusammenlebt. Alle sind sie gewalttätig und leben von dem Geld, das Sita anschafft. Denn Sita arbeitet wieder als Prostituierte – eine andere Möglichkeit, ihr Überleben zu sichern, hat sie nicht.

Soweit also eine der typischen Lebensgeschichten, die wir den Unterlagen der Mädchen entnehmen können. Diese hier hat jedoch eine Besonderheit, nämlich so etwas wie ein Happy End:

Eines Tages trifft Sita beim Arbeiten auf der Straße eine ehemalige Prostituierte, die die Sexarbeit mit Hilfe von CMM hinter sich lassen konnte und nun selbst für die Organisation arbeitet. So kommt sie in Kontakt mit Chaithanya Mahila Mandali. Mit der Unterstützung der CMM-Leute kann sie das Leben als Prostituierte hinter sich lassen und ebenfalls als „Outreach-Worker“ für jene Frauen da sein, die noch in den Händen der Sexindustrie sind.
Weil sie jedoch noch immer in einem Milieu lebt, das von Gewalt, Armut und Kriminalität geprägt ist, gibt sie ihre Tochter Suma in die Obhut von CMM. Mit der Organisation im Rücken kann sie außerdem endlich ihren Sohn, den sie im Dorf zurücklassen musste, zu sich nach Hyderabad holen. Dort ist er nun sicher untergebracht in einem Waisenhaus für Jungen.

Suma lebt nun seit zwei Jahren im Chaithanya Happy Home und ist eines der wenigen Mädchen, das seine Mutter noch hin und wieder zu Gesicht bekommt. Trotzdem oder gerade deshalb weint sie abends oft. Mit ihren acht Jahren wiegt für sie die Trennung von ihrer Mutter noch schwerer als eine kindgerechte Umgebung, eine gute Schulbildung und eine sichere Zukunft.